Lehrenden an Schulen lernen es nie! Nicht Angst, Frust, Niedermachen schaffen Wissen, sondern Motivavtion, Lob und Hilfestellungen. Der Artikel spricht uns aus dem Herzen.
Furcht und Elend des Deutschunterrichts
Abitur. Mündliche Zusatzprüfung im Fach Deutsch. Die Schülerin will sich verbessern, um einen bestimmten Notenschnitt in ihrem Zeugnis zu erreichen. Aber es wird nicht die erhoffte Zwei. Als sie das Ergebnis erfährt, bricht die junge Frau in Tränen aus, fängt an zu schreien, stürzt aus dem Raum. Ich bin einer der Prüfer. Für mich war die Leistung gut, nicht brillant, aber noch eine schwache Zwei wert. Meine Kollegin, die mit mir entscheidungsberechtigt ist, bestand auf einer Drei: Drei plus, zu wenig in der Rechnung der Schülerin. Die Abiturientin hatte Angst: vor der Prüfung, vielleicht auch vor ihren Eltern, die Höchstleitungen vom Kind erwarteten. Die Angst steckt in unserem Schulsystem wie ein Virus, das nicht besiegt werden kann. Anders als bei Covid-19 sind es die Kinder, die sich am leichtesten anstecken, sie sind die Risikogruppe. Das Virus verbreitet sich aber auch unter Lehrern, selbst die Fachleiter an den Schulen und die Beamten der Kultusbehörden sind nicht frei davon.
Ich bin Deutschlehrer an einem Gymnasium in Bayern. Die Kinder sollen richtig und verständlich schreiben, komplexe Texte lesen lernen und Literatur verstehen können. Ich weiß, dass Kinder etwas lernen, wenn sie Freude daran haben. Ich weiß, dass man sie zum Lernen in ihrem Selbstvertrauen stärken muss, und ich bin mir sicher, dass die Persönlichkeit des Lehrers bei all dem eine entscheidende Rolle spielt. Er darf keine Angst verbreiten.
Das mündliche Abitur, das mit dem Nervenzusammenbruch der Schülerin endete, liegt schon einige Jahre zurück. Damals hatte ich einen Ausschnitt aus Lessings „Nathan der Weise“, wo der Sieg der Vernunft über die Dummheit dogmatischen Denkens beschrieben wird, zur Interpretation vorgelegt. Anschließend diskutierte ich mit meiner Kollegin A. den Ertrag des Prüfungsgesprächs. Sie wollte partout meinem Vorschlag, zehn Punkte zu geben (Zwei minus), nicht zustimmen. Sie meinte: „Die Schülerin hat die Stichomythie nicht erkannt.“ Mir fehlten die Worte. Sollte ich zugeben, dass ich nicht wusste, was dieser Fachbegriff bedeutete? Ich hatte keine Argumente mehr. Die Zwei war gestorben.
Zu Hause nahm ich Nachhilfe bei Gero von Wilperts „Sachwörterbuch der Literatur“: „Stichomythie, Zeilenrede, die schnelle, zeilenweise zwischen den Figuren wechselnde Rede und Gegenrede im längeren Dialog des Versdramas, indem auf jede der sich unterredenden Figuren ein einzelner Vers entfällt“. Ich schaute noch einmal auf den Textauszug, den ich zur Prüfung vorgelegt hatte. Es gab genau zweimal eine Äußerung einer Figur in einem einzelnen Vers, jedoch an unterschiedlichen Stellen im Text. Von Stichomythie konnte keine Rede sein. Die Kollegin hatte geblufft. Warum macht eine Lehrerin so etwas? Sie will Macht beweisen, Macht gegenüber den Schülern, deren Fehler sie aufspüren will.
Es ist noch nicht lange her, dass ein junger Kollege, nennen wir ihn B., mit Blättern wedelnd durchs Lehrerzimmer ging und den anwesenden Deutschkollegen zurief: „Ich habe hier einen Test, der geeignet ist, unter den Schülern Angst und Schrecken zu verbreiten. Wer möchte?“ So wie er denken und handeln viele, und was das Schlimmste ist: Er kommt frisch aus der Lehrerausbildung. Die Ergebnisse dieser Pädagogik muss ich immer wieder erleben. Wenn sie ihre Klassenarbeiten zurückbekommen und ihr Blick auf die Note fällt, brechen die Kinder reihenweise in Tränen aus. Wenn ich sie auffordere, einen Text vorzulesen, den sie schreiben sollten, sagen neun von zehn, bevor sie beginnen: „Was ich geschrieben habe, ist aber nicht gut.“ Einmal hat ein Junge angesichts der Note, die ich unter seinen Aufsatz geschrieben habe, zu weinen begonnen. Er hatte eine Drei. Ich wollte wissen, was daran so schlimm war. Weil ihm die Stimme versagte, erklärte eine Mitschülerin: „Er hat bisher immer nur Vieren und Fünfen bekommen. Er kann es gar nicht fassen.“ Deshalb weinte er. Es ist nicht leicht, sich gegen die systematische Vernichtung des kindlichen Selbstvertrauens zu stemmen, wenn die meisten Lehrer genau daran arbeiten. Und sie tun es, weil sie ihrerseits Angst haben, Angst, den Anforderungen der Aufsichtsbehörde nicht zu genügen. Vielleicht haben sie selbst in ihrer Schulzeit zu oft erfahren müssen, dass ihre Leistung nichts wert ist, und geben darum diese Erfahrung weiter.
Ich bin nicht nur Lehrer am Gymnasium, ich bin auch Vater einer Tochter, die das Gymnasium besuchte. Natürlich habe ich mir immer die Deutscharbeiten angeschaut, die meine Tochter korrigiert und bewertet nach Hause brachte. Immer häufiger fielen mir dabei Unstimmigkeiten auf. Das Übliche: Kommafehler, die keine waren, Ausdrucksfehler, über die man hätte streiten können, inhaltliche Zweifelhaftigkeiten. Ich sagte zu meiner Tochter, dass ich gern mit ihrer Deutschlehrerin über diese Dinge sprechen würde. „Nein, Papa, tu das bloß nicht. Sie lässt das garantiert im Unterricht an mir aus.“ Gut, ich musste vorsichtig sein. Kein Kollege lässt sich gern von einem anderen kritisieren, und es ging um mein Kind, ich war parteiisch. Also übte ich mich in Geduld, doch es wurde nicht besser.
Irgendwann war meine Tochter einverstanden, dass ich ihre Lehrerin ansprach. Noch bevor ich irgendetwas Inhaltliches vorbringen konnte, ging die Kollegin C. zum Angriff über, den sie wohl für die beste Verteidigung hielt. Sie habe meine Tochter bei den Klassenarbeiten eigentlich immer überbewertet, behauptete sie, eigentlich hätte sie ihr viel schlechtere Noten geben müssen. Ich versuchte das Gespräch zu versachlichen und lenkte es höflich auf konkrete Korrekturen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Ich kam nicht weit. Etwa nach dem dritten Punkt sah ich, wie sich die Augen der Kollegin mit Tränen füllten. Sie begann zu schluchzen. Ich murmelte etwas in der Art von „Ist doch alles nicht so schlimm“ und schlich davon. Was war passiert?
Auch diese Kollegin hatte geblufft, so lange, bis sie die Fassade der kompetenten, strengen Lehrerin nicht mehr aufrechterhalten konnte. Auch sie hatte ihre Stellung dazu missbraucht, Macht auszuüben, mit der Waffe der schlechten Benotung. Und was steckt hinter dieser Attitüde der „strengen Lehrerin“, die gern Angst und Schrecken verbreitet und mit dem Rotstift wie mit einem Speer auf das Herz des Schülers zielt? „Unsicherheit!“, sagte mir einmal ein erfahrener Schulleiter, der es nach Jahrzehnten im Dienst eigentlich wissen muss. Es ist die Unsicherheit, selbst Fehler zu machen, die Angst, vom Fachleiter, dem obersten Deutschlehrer an der Schule, als inkompetent beurteilt zu werden.
Ein Beispiel aus dem bayerischen Abitur 2020. Der Schüler schreibt: Dieses Erlebnis hat „einen speziellen Platz in meinem Herzen gefunden“. Ich bin Erstkorrektor und freue mich über die Formulierung, sie ist bildhaft, emotional. Doch der Zweitkorrektor, Kollege D., zückt den Rotstift, unterstreicht „gefunden“ und notiert am Rand „A“ für Ausdrucksfehler, muss heißen: . . . in meinem Herzen „eingenommen“. Vielleicht wirklich nur eine Geschmacksache? Ich könnte Dutzende solcher Beispiele nennen.
Entscheidend für die Bewertung eines Aufsatzes sind weder der sprachliche Ausdruck noch die Rechtschreibung oder Kommasetzung. Auf den Inhalt und den Aufbau eines Textes kommt es an! Bleiben wir beim diesjährigen Abitur in Bayern: „Interpretieren Sie das Gedicht ,Entschluss‘ von Joseph von Eichendorff!“Meine Schülerin interpretiert die Verse als lyrische Gestaltung der Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, zumal, wenn sie ungewisse Auswirkungen mit sich bringen können. Sie beschreibt das Sonett, analysiert sprachliche Besonderheiten und rundet ihre Interpretation mit einem Fazit ab. Sie macht auch Fehler, bleibt stellenweise ungenau, greift hin und wieder in der Wortwahl daneben. Aber im Kern hat sie das Gedicht verstanden und, für meine Begriffe, zufriedenstellend interpretiert: Note Drei. Die Zweitkorrektorin, Kollegin D., meint, es gebe keine Interpretationsthese, sie besteht auf einer Vier.
Wer hat recht? Die Bewertung eines Aufsatzes darf nicht völlig subjektiv sein, schon gar nicht im Abitur, wo mit den Abschlussnoten die Startbedingungen für das Leben nach der Schule festgelegt werden. Das Fach Deutsch muss gegen den Ruch der Beliebigkeit ankämpfen und versucht in seiner Not, Regelwerke für die Interpretation von Literatur zu entwickeln, von denen manche Kollegen behaupten, sie ermöglichten die objektive Bewertung eines Aufsatzes. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus lässt dazu Lehrpläne entwickeln. Schulbuchverlage verarbeiten die Richtlinien der Kultusbürokratie in ihren Lehrwerken. Und was das Abi betrifft, so liefert das Ministerium „Hinweise zur Korrektur und Bewertung der Abiturprüfungsarbeiten“.
Das Virus Angst hat die Lehrer fest im Griff. Je mehr die Fachschaftsleitung sich vor einer möglichen Kontrolle durch Ministerialbeamten fürchtet, desto enger werden die Regeln geführt, nach denen die Schüler ihre Literaturinterpretationen schreiben sollen. Es wird ihnen eingetrichtert, wie eine Einleitung auszusehen hat, mit welchen Formulierungen sie ihre Gedanken zu einem Gedicht zum Ausdruck bringen müssen, wie sie am Ende das Fazit zu Papier zu bringen haben. Ich habe nichts dagegen, Schülern mit Hilfe eines Schemas beizubringen, wie man Literatur interpretiert. Die Kinder kommen nicht mit diesem Talent auf die Welt. Es hilft ihnen, wenn man ihnen zeigt, wie man es machen kann. Aber ich habe etwas dagegen, wenn man ihnen eintrichtert, dass man es genau so machen muss.
In keinem Lehrbuch, in keinem „Abiturwissen Deutsch“ ist verbindlich festgelegt, wie eine Einleitung auszusehen hat, und dennoch korrigieren Kollegen so, als ob es Formeln dafür gäbe, die man nacheinander abhaken könnte. Wer den Stift freier bewegt, kann schönere Ergebnisse erreichen, individuellere, originellere. Die Objektivität, die mit der Festlegung auf Sprachschablonen erreicht werden soll, ist ein Popanz! Er schüchtert die Lehrkräfte an der Schule ein, mit der Folge, dass sie jede Kreativität in sich abtöten und die der Schüler gleich mit.
Aber die Damen und Herren aus den Kommissionen, die Lehrer und Bildungsforscher, die die Abituraufgaben stellen und Lösungshinweise mitliefern, sind viel zu klug, als dass sie Objektivität in der Bewertung von Deutschaufsätzen einfordern würden. Es wimmelt in den „Hinweisen“ nur so von Formulierungen, die ihre Verlautbarungen mit Recht relativieren. Es wird von der „Mehrdeutigkeit literarischer Texte“ gesprochen und ermahnt: „In der Systematik ihrer Vorgehensweise sind die Schülerinnen und Schüler frei.“ Und überhaupt, falls die Korrektoren beim Abzählen der Erbsen eine faule gefunden haben sollten und die Note nach unten drücken wollen: „Die Notenbildung erfolgt nicht durch Addition von Teilleistungen, sondern als Gesamtwürdigung der individuellen Herangehensweise.“ Das Sicherheitsnetz ist gespannt, aber die meisten Deutschlehrer, die ich kenne, wagen nicht den Sprung in die Freiheit. In vorauseilendem Gehorsam geben sie aus Unsicherheit nicht selten die schlechtere Note.
Noch eine Nachbemerkung zur diesjährigen Abituraufgabe mit dem Eichendorff-Gedicht. Im Lösungsheft des Ministeriums für die korrigierenden Lehrer findet sich der Hinweis, es handele sich bei den Versen des Romantikers um ein „Plädoyer zugunsten einer Lebensführung, die die Reize einer teleologisch ausgerichteten, viril-konnotierten Zweckorientierung zwar anerkennt, sich aber letztlich couragiert für den Weg ins Unbekannte entscheidet.“ Armer Eichendorff! Armer Korrektor! Welche Wirkung will der Autor wohl mit diesem Satz bei seinen Lesern erzeugen? Sie sollen spüren, dass sie nur ganz kleine Lichter sind, und sollen sich bloß davor hüten, einen Aufsatz individuell zu bewerten. Doch dahinter steckt nur ein weiterer Bluff. Die Lehrer müssten ihre eigene Angst überwinden. Dann müssten sie auch den Kindern keine Angst mehr machen.
Der Name des Autors ist geändert. Er unterrichtet Deutsch an einem bayerischen Gymnasium
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